Dienstag, 19. März 2024

Die Weihnachtsgans Auguste (Wolf)

Fünf Kilo wog die Weihnachsgans, die Herr Luitpold Löwenhaupt,
seines Zeichens Opernsänger, für den Festtagstisch gekauft.
Der Vogel war recht kapital für diese schweren Zeiten.
„In solchen Zeiten lass ich mich von meinem Herzen leiten.“
Bei diesem Satz, den Löwenhaupt mit tiefem Basse grollte,
spürte er längst, was sein Magen wirklich sagen wollte.
Während er die Gans mit beiden Händen kräftig drückte,
roch er in der Nase schon die feinen Bratendüfte.
Er spürte auch von Rotkohl und von Äpfeln den Geruch,
und brummelte darum immer wieder jenen Spruch:
"Aber etwas muss man doch für das Herze tun."
Doch das half ihm nicht, sein Gewissen auszuruhn.

Gekauft hatte er eigenmächtig
und so was wirkt oft verdächtig.
Was jedoch viel schlimmer war,
die Weihnacht war noch längst nicht da.
Deshalb, und das war notwendig
war die Gans ganz quicklebendig.

Als er sich an diesem trüben Novembertag nach Hause wagte
und, als er dann näher kam, langsam immer mehr verzagte,
fürchtete er recht verdrossen
den Zorn und Spott der Hausgenossen.
Doch der Empfang war gar nicht grob,
nein, es gab überraschend Lob,
das hatte Luitpold nicht geglaubt, 
von Frau Hanna Löwenhaupt,
die die Gans als kräftig lobte, imposant, preiswert und fett.
Das Kindermädchen fand hingegen das Gefieder sehr adrett.
Und sie sprach aus, was alle dachten,
"Wo soll das Tier nur übernachten?"

Klein-Peter, sieben, Elli, zwölf und die Gerda, zehn,
die Sprößlinge der Löwenhaupts, sah‘n hier gar kein Problem.
Das Kinderzimmer gäbe es, das Bad und die Toilette
falls das Gänschen ein Bedürfnis nach Erfrischung hätte.
Die Eltern lehnten jedoch ab. Aus hygienischen Gründen
hätt’ sich das werte Federvieh im Keller zu befinden.
Auf dass bei den Kartoffeln es allein sein Dasein friste,
weich gebettet in eine mit Stroh gefüllte Kiste.
Einmal täglich könnten die Kinder Gänse hüten,
doch mehr als eine Stunde käm nicht in die Tüten.
Die Kinder fügten sich darein
und das Glück war allgemein.

An diese Regeln hielten sich die Kinder kurze Zeit,
doch nach einer Woche war es dann schon soweit:
Das Peterle bekann zu klagen,
der Gans, die er Auguste nannte,
tät der Keller nicht behagen.
Es war die Elli, die erkannte,
dass Gänse Daunenfedern haben.
„Die bauscht sie auf wie eine Decke.“
fügte sie belehrend an.
„Verstehe, doch zu welchem Zwecke?“
„Dass sie nicht friert, du Dummerjan!“
„Ihr ist es kalt!“, flogs Gerda von der Zunge.
„Da ist es kalt!“, schluchzte der Junge.
„Ich will nicht, dass Gustje friert, ich hole Gustje rauf zu mir!“
Damit sprang er aus dem Bett und war auf dem Weg zur Tür. 

Die ält're Schwester fing ihn ab, zog ihn zum Bett zurück.
Doch am andern Ende wagte Gerda nun ihr Glück.
Elli zog und Gerda zog, so dass der Peter schimpfen musste,
“Lasst mich los! Ich will sofort in den Keller zu Auguste!”
Mitten im Tumult betrat die Mutter dann die Szene
und sie trennte mit Geduld die verknäuelten Streithähne.
Die Mutter nahm den Peter mit. Sie gebat den Schwestern Ruh
und der Rest von dieser Nacht ging dann still und friedlich zu.

Nach zwei Tagen hatten Gerda und Peter etwas ausgeheckt.
Es blieb nur die Gerda wach und hat den Peter aufgeweckt.
Als die ältre Schwester schlief und das Haus ganz stille schien,
schlichen sich die zwei auf nackten Zehen zu Auguste hin.
Im Keller unten nahmen sie die Gans aus ihrer Kiste,
die sie mit „Lat mi in Ruh!“ misstrauisch begrüßte.
Auf dem Weg nach oben machte Gustje ein Geschrei
„Lat mi in Ruh! Lat mi in Ruh!
Ick will in min Truh, ick will in min Truh!“
und Theres, das Kindermädchen eilte rasch herbei.

Weitre Türen flogen auf und selbes tat Auguste,
die sich mit Geschick aus Gerdas Arm zu winden wußte.
Sie schnatterte und flatterte durch das Treppenhaus,
und baute ihren Vorsprung durch Kapriolen aus.
Bei der Jagd durch Korridore stoben wild die Federn.
Dass Theres sie endlich einfing auf den letzten Metern
des unt'ren Hausflurs war nur reines unverschämtes Glück,
sie bracht' die Gans in einer Decke eingehüllt zurück.
Auguste schimpfte weiterhin „Ick will in min Truh!“
Der kleine Peter fügte forsch noch folgendes hinzu:
„Ich will Auguste bei mir haben,
in meinem Bett soll Gustje schlafen!“

Die Mutter brachte ihn ins Bett, versuchte zu erklären,
dass die Gänse keinesfalls ins Schlafzimmer gehören.
"Im Bett schlafen nur Menschen, nun tu nicht weiter bocken."
"Aber warum muss Auguste denn im Keller hocken?"
Peterle war aufgeregt, das konnte Hanna sehen.
So durfte Gustjes Kiste denn an seinem Bette stehen.
Gustje sprach noch etwas in ihr Federkleid hinein,
"Lat man gut sin, lat man gut sin,
Hauptsach, dat ick in min Truh bin!"
dann schliefen auch der Peter und seine Schwestern ein.
Auguste blieb nun da, natürlich
und sie war auch sehr manierlich.

Bei Tag lief sie an Peters Seite
und erzählte ihm gescheite
Geschichten über bittre Gräser und auch solche die gut schmecken
und zuletzt wie man gekonnt vorgeht diese zu entdecken.
Sie schilderte, wie wilde Gänse stets im Herbst nach Süden ziehen
und wie manche sogar an Grönlands Eisküsten gediehen.
Die Auguste blieb dem Peter wirklich keine Antwort schuldig
und war auf sein „Weshalb, warum?“ immer freundlich und geduldig.
Dass die Schwestern Gustje mochten, das ist wohl sehr leicht verständlich,
doch der Peter und sein Gänschen waren beinahe unzertrennlich.

Eines Abends hat sich Gustje dann in Peters Bett gekuschelt
und die beiden haben noch lange Zeit vertraut getuschelt.
Am Morgen schlüpfte Gustje danach wieder in ihr Stroh zurück
und die Elli und die Gerda ließen ihnen dieses Glück.
Mit Siebenmeilenstiefeln nahte nun Weihnachtszeit
und eines schönen Mittags war Herr Löwenhaupt es leid,
länger noch zu warten. „Die Auguste ist heut dran!“
Tadelnd sah ihn seine Frau mit großen Augen an
und legte gleich dazu noch ihren Finger auf den Mund.
Sollte heißen: ‚Das besprechen wir zu spätrer Stund!‘

Als die Eheleute schließlich ungestört alleine waren,
fragte Luitpold nach dem Grund für das seltsame Gebaren.
Und nun erzählte Hanna kläglich,
was Luitpold wolle, wär unmöglich.
Die Kinder hätten adoptiert,
die Gans, die er sich reserviert.
"Was ist unmöglich?" fragte er,
dann dämmerte ihm das Malheur.
"Die Gans ist jetzt ein Spielzeugtier?
Und was wird bitteschön aus mir?
Ich bin doch hier kein Hampelmann!"
Nun schwollen seine Adern an.
"Die Gans kommt auf den Tisch und basta!"
"Luitpold, denke an dein Asthma!“
Er schnappte leise wie ein Fisch
und verließ empört den Tisch.
Die Tür fiel krachend in ihr Schloss.
‚Mit dem ist heute nichts mehr los.‘
Sie stopfte seufzend ein Paar Socken
und dabei blieb kein Auge trocken.

Danach beriet sie mit Theres, ob es eine Lösung gäbe,
etwa einen andern Braten, auf dass Gustje überlebe.
Doch das knappe Haushaltsgeld würde dazu nicht genügen.
Sollte man im schlimmsten Fall die Kleinen einfach so belügen?
Und wenn Auguste nicht mehr sei,
wer brächte das den Kindern bei?
Und wie sollt‘ man es betreiben,
den armen Vogel zu entleiben?
"Wenn der Herr es selber machte, fände ich das nur gerecht."
sprach Theres und auch die Mutter fand diese Idee nicht schlecht.
Ihr Mann kannte die Gans nur flüchtig,
deshalb war die Entscheidung richtig.

Die Heldenarie klingelte noch leis in Luitpolds Ohr,
da trug ihm seine Anvertraute ihre Wünsche vor.
„Ihr Weibsvolk!“ sprach er und er legte seinen Mantel nieder.
„Muss ich dem Vogel wirklich eigenhändig ans Gefieder?“
Nochmals gab es großen Lärm, als Theres die Gans sich schnappte.
„Ick will min Ruh, min Ruh!
Lat mi in min Truh!“
Worauf Peterle erwachte und sie bei der Tat ertappte.
Die Schwestern und die Mutter weinten, Auguste büxte aus,
sie machte eine neue Tour durch das ganze Haus.
Herr Löwenhaupt, ein echter Mann,
trieb die Jagd nach Gustje an.
Er stellte sie in einer Ecke,
ohne Aussicht auf Verstecke.
Unerschrocken griff er zu, da sie keinen Ausweg fand
und er nahm sich aus der Küche einen langen Gegenstand.
Die Mutter hielt die Kinder fest, der Vater lief in die Garage.
Er befand sich mit der Gans auf dem Weg zur Mordanklage.

Luitpold hob gefasst das Messer,
doch Auguste wusst es besser.
Entwischt lief sie im Kreis vier mal
und flatterte auf das Regal.
Der Hausherr stieg erbost ihr nach,
worauf das Teil zusammenbrach.
Es ergossen auf den Wagen
sich Werkzeuge und Holzlackfarben
und eine Stange stach beileibe
mitten durch die Frontschutzscheibe.
Er setzte sich erschöpft ins Auto und Auguste kam hinzu,
beide brauchten nach der Hatz ihre wohlverdiente Ruh.
Zurück im Haus erklärte Luitpold, die Gans wär ihm wohl überlegen
und er gäbe sich geschlagen, schon allein der Nerven wegen.
Er gab das Tier einstweil zurück an den glückseligen Peter
und die Hanna gab zum Vorfall ihre trock'ne Meinung später:
"Vom Himmel fiel noch nie ein Meister,
aber schon viel Scheibenkleister."

Finster brütete der Sänger, wie er noch zum Ziele käme
und man sah ihn dirigieren über seine Sessellehne.
Plötzlich kam ihm die Idee, der Ausweg würde schmerzlos sein!
Morgens mischte er der Gans Tabletten in den Napf hinein.
Zehnfachdosis Schlaftabletten, wie für einen Elefanten,
oder ein Rhinozeros samt zweier seiner Anverwandten.
Gustje lief nach ihrer Mahlzeit Zickzack wie ein müder Kreisel.
Dann legte sie sich bäuchlings hin, groggy ohne jeden Zweifel.
Die Flügel zuckten ein klein bisschen, als die Kinder sie berührten,
wobei alle Weckversuche nur noch zu Geschnarche führten.

"Was tut Gustje?", fragte Peter. "Sie hält ihren Winterschlaf.",
sagte Luitpold, den die Frage etwas unerwartet traf.
Er wollte sich von dannen pirschen, doch der Peter hielt ihn fest.
„Warum hält sie diesen ‚ihren Winterschlaf' gerade jetzt?" 
Der Vater sprach gesenktem Haupts:
„Sie ruht sich für den Frühling aus.“  
und fühlte sich wie beim Verhör
vor seinem naseweisen Gör.
Peterchen trug seine Freundin zu sich hoch in ihre Kiste
und er fand, dass er bereits ihre muntre Art vermisste.

Als die Nacht schon fortgeschritten, ging ein Schatten durch den Raum,
bedeckte den erschlafften Vogel und griff ihn bei seinem Flaum.
Zur Küche lief Theres in Socken
und dann fielen weiße Flocken. 
Sie begann wie ihr geheißen,
der Gans die Federn auszureißen.
Auf die Federn fielen leise Tränen von Thereses Wangen,
nach der Arbeit ist sie wieder traurig in ihr Bett gegangen.
So wie Gustjes Körper lag, in der kühlen Speisekammer,
war auch Hannas Abendkuss auf des Gatten Stirn ein klammer.
Alle träumten wirres Zeug, von Geistergänsen, schaurig klagend:
„Lat mi in Ruhuhu,
ick will im min Truhuhu!“
und sie schreckten mehrfach hoch, sich mit Hirngespinsten plagend.

Der Morgen kam, in der Küche sah Theres den Schnee vorm Fenster.
Was war das? Ja, träumte sie? Waren es die Nachtgespenster?
Aus der Speisekammer drang ein sehr deutliches Geschnatter.
Sie öffnete geschwind die Tür und sie guckte ganz verdattert.
Da tapste schimpfend und gerupft, Auguste ihr entgegen.
„Ick frier, als ob ick keen Federn nich hätt!
Man trag mich gleich wieder in Peterles Bett.“
Theres schrie auf und ihre Knie schlackerten verwegen.
Der Vater trat nun auch herein und schnaufte ganz unsäglich.
Was er gerade vor sich sah, das hielt er für unmöglich.

„Was nun?“ fragte Frau Löwenhaupt, als Luitpold sich die Augen rieb,
sie ging an ihm vorbei so dass sie vor Auguste stehen blieb.
„Ich brauche einen Doppelkorn und einen Kaffee!“,
rief der Vater der noch immer dastand, weiß wie Schnee.
"Bringe einen Korb, Theres und eine warme Decke!
Luitpold, du gehe gleich zum Laden um die Ecke!
Kaufe mir ein gutes Pfund bester weißer Wolle.“
Luitpold fragte irritiert, was die Wolle solle.
"Frage nicht! Hier hast du Geld und meine Einkaufstasche.
Und du, Theres, hol mir bitte eine Wärmeflasche!"
Löwenhaupt war so erschüttert, dass er gar nicht widersprach.
Er nahm sich Mantel, Hut und Schnaps und er gab ganz einfach nach.

Schon nach einer Stunde saßen Mutter und Theres
in der Stube und sie strickten jahreszeitgemäß
für Auguste einen Pulli, kuschelwarm und blütenweiß.
Nach der Schule zeigten auch die beiden Mädchen ihren Fleiß.
Peterchen hielt derweil seine Gustje auf den Knien
und half ihr, den Pullover zur Probe anzuziehen.
Für Flügel, Beine, Hals und Sterz sollten Löcher bleiben
und man musste deren Ort und Größe noch entscheiden.
Spät am Abend konnte man das Wunderwerk bestaunen
und Auguste meckerte in ihren Wolle-Daunen:
"Winterschlaf is Schnackeschnick,
hätt ich min Federn bloß zurück!"
Peter sprang um sie herum und feierte das Ende
des dubiosen Winterschlafs zur Wintersonnenwende.

Als Löwenhaupt zum Abendessen den Pullover sah,
meinte er, und dieses ging besonders Hanna nah:
"Angekleidet macht Auguste richtig etwas her,
so ein schönes Exemplar gibt's auf der Welt nicht mehr!"
Die Stars des Viertels waren, wie es bald jeder wusste,
der kleine Peter und seine „Rollkragen-Auguste“.

Als Mitglied der Familie saß die Gans am Festtagstisch 
und der Vater sah sich um, dann räusperte er sich:
„Ähem, wer hat uns Auguste denn nach hause mitgebracht?“
„Das warst natürlich du“ sprach Peter und dann hob er mit Bedacht 
seine Gans auf Papas Schoß.
„Schau, sie gibt dir einen Kuss!“
Wahr ist, dass sie mit dem Schnabel in die Nase zwickte.

Im Bett sprach Peter zu Auguste, die er an sich drückte: 
„Warum hast du eigentlich Winterschlaf gemacht?“
„Weil man meine Federn wollte, hab ich mir gedacht.“
„Und nach den Federn, echt verrückt…“
„Kam der Pullover, handgestrickt.“
„Das ist doch totaler Quatsch!“, sprach das Peterlein,
er gähnte nochmal herzhaft und beide schliefen ein.


Zwei Kilo wogen beide Karpfen, die Herr Luitpold Löwenhaupt,
seines Zeichens Gänsevater, als Sylvesterschmaus gekauft.
Fische, die im Schlamm geschwommen,
wird der Schlammgeschmack genommen,
wenn sie im klaren Wasser baden,
wurde ihm beim Kauf geraten.
Deshalb, und das war notwendig,
warn die zwei ganz quicklebendig.
Elli, Gerda gaben Namen,
den Fischen die gerade kamen.
Sie hießen Lothar und Susanne
und wohnten in der Badewanne.

Ende



Dienstag, 5. März 2024

So, Frühling

Als die Kätzchen weiden gingen,
pelzig sich von Zweigen hingen,
in das glucksend Bächlein neigten,
still ihr Spiegelbild beäugten,
grasten Halme sanft und leise
und die Spatzen suchten Speise.
Tranken aus den Märzenbechern,
pfiffen es von allen Dächern,
dass bald Osterglocken läuten
um zu wecken aller Breiten,
schlafbeäugte Siebenschläfer,
Schmetterling und Maienkäfer.

Donnerstag, 22. Februar 2024

Der Krokus

Durch das Erdenreich behände
schiebt die Faser sich ohn Ende
Aus der Zwiebel und trifft gleich
auf den Phasengrenzbereich
Und da wird es endlich lichte,
wenn auch noch der Schnee als dichte,
fest gefügte Matte wehrt,
unlang bleibt der Weg versperrt.

Weil die Sonnenstrahl'n die kecken
an der Oberfläche lecken.
Sich durch die Kristalle buddeln,
um den bleichen Keim zu knuddeln.
Der reckt Blättchen, eins, dann zwei,
und ergrünt vor Freud' dabei
Schenkt als Pflanze seinem Retter
einen Kelch voll Blütenblätter.

So wie dieser Keim befreit,
ist der Mensch zur Frühlingzeit.
In des Winters eisg'en Schränken
lagern Mengen finstres Denken.
Doch die schmelzen in der Sonne
schnell dahin und voller Wonne,
qietschvergnügt und guter Dinge
spiel'n im Bauch die Schmetterlinge.

Montag, 19. Februar 2024

Das Kernproblem

Ich möchte hier kurz über das Kernproblem vieler psychischer Probleme sprechen, wie es von Dr. Laurence Heller und Dami Charf erklärt wird.

Also das Kernproblem ist, dass sich Kinder beim Aufwachsen eventuell entscheiden müssen zwischen der Bindung an ihre Bezugsperson und ihrer eigenen Entwicklung. Das Kind wird sich dann immer für die Bindung entscheiden und seine eigene Entwicklung aufgeben. Dabei gibt es 5 Entwicklungsschritte, die gestört werden können: Bindungsfähigkeit (bonding), Einstimmung (attunement), Vertrauen (trust), Autonomie (autonomy) und Liebe/Sexualität.

Der Grund dafür ist, dass Kleinkinder Bindungsfehler ihrer Bezugsperson immer auf sich beziehen, da sie sich noch nicht in andere Personen hineinversetzen können. Sie suchen den Grund für eine Bindungsschwächung, -abbruch oder -missbrauch bei sich und werten sich deshalb selbst herab. Darüber hinaus wird jeder Schritt in Richtung erwachsen werden und jeder eigene Erfolg als Bedrohung der Bindung zur Bezugsperson empfunden, selbst dann noch, wenn man nicht mehr von der Bezugsperson abhängig ist.

Störungen in der ersten Stufe führen dazu, dass sich das Kind als nicht lebens-, liebens-, und bindungswert empfindet. Es hat Scham vor seiner eigenen Existenz, vor seinen Gefühlen und seinem Bedürfnis nach Bindung.  In der zweiten Stufe hat man Angst davor, seine Bedürfnisse zu kommunizieren, also um Hilfe zu bitten. Bei Störung des Vertrauensschritts hat das Kind Scham vor Abhängigkeit, Schwäche und Verletzlichkeit. Störung des Autonomiebestrebens führen zu Angst vor Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit. Störung der Liebesfähigkeit führen zu Angst vor Intimität und davor, sein "Herz an jemanden zu verschenken", bzw. seine intimen Gedanken mitzuteilen.

Die dementsprechenden Vermeidungs- oder Überlebensstrategien sind: Trennung und Distanzierung (disconnection); Überanpassung und Verschlossenheit; (falsche) Selbstständigkeit, Kontrolle und Stärke; Überanpassung oder übertriebene Autonomie; Perfekt sein wollen, rasch wechselnde, oberflächliche oder überhaupt keine Liebesbeziehungen eingehen.

Mit der Scham und Angst sind auch negative Emotionen und Gefühle verbunden, die eigentlich an die Bezugsperson addressiert sind, aber vom Kind gegen sich selbst gerichtet werden: Scham,Wut, Hass und Angst. Diese Autoaggressionen kommen immer dann zum Vorschein, wenn eine Situation auftritt, in der ein gestörter bzw. nicht erfolgter Entwicklungsschritt abgefragt wird, Bindung, Empathie, Vertrauen, Autonomie, Sexualität. Sie können sich als Depression, Selbstverletzung, Selbsthass oder psychosomatische Phänomene wie Schmerz oder Ohnmacht manifestieren. 

Strategien zur Kompensation gibt es viele. Suchtverhalten, die angesprochene Selbstverletzung, Selbstisolation, Projektion des Hasses auf andere Personen und Personengruppen, Kontrollverhalten sowie im schlimmsten Fall Weitergabe des Traumas an andere über psychischen und physischen Missbrauch.

Der Ausstieg aus diesem Dilemma gelingt laut Heller mit der sogenannten Selbstwirksamkeit, die zwischen dem Kind-Ich mit seinen Überlebensstrategien und dem Erwachsenen-Ich mit seinem größeren Verständnis, logischen Fähigkeiten und Kapazität zur gleichzeitigen Verarbeitung mehrerer Gefühle vermittelt. Dabei hilft, dass man mal schaut, wie die kindlichen Überlebensstrategien mit den erwachsenen Bedürfnissen konkurrieren. Mitzuerleben wie man vom Kind-Ich (Beklemmung) zum Erwachsenen-Ich (Erleichterung) wechselt und zurück. Und dass man lernt Gefühle/Empfindungen zu sortieren.

Ganz recht, erstmal wahrnehmen und dann eine passende Schublade suchen. Passt das Gefühl zu der aktuellen Wirklichkeit? Oder sortieren wir es in eine Vergangenheit? Und wie stehe ich zu den Emotionen und Gefühlen, wie bewerte ich sie selbst? Was wollen sie mir sagen, in welche Richtung möchten sie mich schieben? Welche Palette gibt es?

Gefühle sind manchmal Erinnerungen, die wir in die Zukunft projezieren (memories of the future past). Etwas wird passieren wie schon einmal erlebt, besser vermeiden? Nein, sortieren! Das ist Vergangenheit, jetzt sind wir erwachsen und jetzt sind wir viel stärker! Selbst wenns schief geht, das können wir ab! Soweit die Logik. Jetzt das Gefühl.

Hat man die Emotionen sortiert gilt es nun, sie auszuhalten und nicht gleich wieder wegzudrücken oder in Aktionen zu kanalisieren. Aushalten, abwarten, präsent bleiben. Das trainiert die Toleranz für Emotionen und Gefühle, besonders starke und gemischte Gefühle.

Ein letzter wichtiger Schritt ist echte Trauer. Trauer über das was man verloren hat und was nicht wiederkommt. Trauer über das, was man hätte haben sollen und nicht bekommen hat. Nur mit ehrlicher Trauer kann man abschließen.

Gerade höre ich den Podcast "Raus aus der Depression" mit Harald Schmidt und Ulrich Hegerl. Was man dort über Depression hört deckt sich wahrscheinlich nicht von ungefähr damit, was Dami Charf in "Auch alte Wunden können heilen" über die Dissoziation bzw. den Totstellreflex nach Kindheitstraumata schreibt. Auf Stress reagiert der Körper mit geistiger Distanzierung (Isolation, Angst), mit Herunterfahren der körperlichen Aktivität (Ruhebedürfnis), Appetitlosigkeit etc.

Ein Thema, dass ich hier noch nicht erwähnt habe ist die sogenannte Hypervigilanz oder erhöhte Wachsamkeit. Diese ist für alle Traumata typisch. Man scannt die Umgebung permanent nach Triggerfaktoren, also potentiellen Gefahren ab. Diese Tätigkeit ist ungemein stressig und frisst viel Energie. Man ist andauernd nervös und ängstlich, kann nicht abschalten, aber auch nicht produktiv tätig sein. Da man alles kontrollieren muss, kann man sich nicht mehr auf etwas Bestimmtes fokussieren. Dieser Zustand kann einer regelrechten Erstarrung oder Lähmung gleichen oder sich in nervösen Bewegungsmustern (Ticks wie Fußtippen) oder Kontrollzwängen äussern (etwa auf die Uhr schauen).
Man kann aus Ablenkung oder Nervosität eventuell nichts zu Ende bringen und ist sehr vergesslich.
Abends ist man dann total fertig, obwohl man nichts gemacht hat. Trotzdem kann man vielleicht nicht schlafen, weil man mit dem Schlaf ja die Kontrolle abgeben müsste. Die Wachsamkeit hält einen immer an der Grenze zu einer Notreaktion und Reize spezieller Art können Panik, Aggression (auch verbal) oder ein Abschalten provozieren. Das können Triggerreize sein, aber auch solche, die eine ungewohnte Empfindung hervorrufen.